“Eigentlich sprach alles dagegen und nur eines dafür:
Hier war endlich Platz.”
Georg von Siemens
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Spandau – Siemensstadt 2.0 ist derzeit in aller Munde. Am 30. Oktober 2018 wurde es (sie?) beschlossen. Ein paar Tage später und es wäre ein schönes Jubiläum gewesen.
Wann ist der “richtige” Geburtstag für einen Ortsteil? Wann fing Alles an?
Bei der Siemensstadt tendieren die meisten Quellen zum 1. August 1899. An diesem Tag wurde das erste Werk, das Kabelwerk in Betrieb genommen.
Die Produktion begann. Das Herz der neuen Industrieanlagen fing an zu schlagen.
Meiner Meinung nach war es allerdings schon der 3. November 1897. Dieser Tag markiert das Datum des Grundbucheintrags des ersten Grundstückes.
Ohne Grundstück, kein Bauplatz. Keine Fabrik.
Das war heute vor 121 Jahren.
Aber wieso hier? Hier war nichts. Nadelbäume zum einen, Unmengen an märkischer Sandwüste zum anderen und zur Spree hin nur Sumpf. Und genau hier, im Sumpf an der Spree, sollte das erste Werk, das Kabelwerk gebaut werden.
Etwa 20 Jahre vorher, 1873, hielt Theodor Fontane seine Eindrücke bei einer Wanderung zum Schloß Tegel fest. Er beschrieb eine gewisse Ödnis in der einzig die “Weißen Sandberge” ein wenig Abwechslung ob der Aussicht boten (die “Berge” erstreckten sich etwa von dort wo heute das Dynamowerk steht bis hin zum OSRAM-Werk, für dessen Bau die letzten Reste abgetragen wurden). Es gab “Bretterbuden” mit Gärten am Nonnendamm, ein kleines Pumpengebäude des Charlottenburger Wasserwerkes, die Staearinfabrik Motard (kaufte günstig das stillgelegte Sägewerk und brachte auch die wenigen Arbeiter im Haus unter) und zwei oder drei Wohngebäude in Paulstern. Die nächsten wirklichen Ortschaften waren in jeweils drei Kilometern Entfernung die Arbeiterkolonie Haselhorst und die neue Bebauung an der Schlossbrücke.
Übersetzt: Es war ein nicht erschlossenes Gebiet und es war trostlos. Erschwerend für die Ansiedlung einer Großfirma kam die politische Lage hinzu. Die Nonnenwiesen gehörten zwar zu Spandau, das Gebiet war aber eine Exklave. Umgeben von den eigenständigen Gemeinden und Kreisen Charlottenburg, Osthavelland, Niederbarnim, Sternfelde. Für die beabsichtige Expansion nicht gerade förderlich.
Georg von Siemens beschreibt die Entscheidung für die Ansiedlung sehr ausführlich, über mehrere Seiten hinweg. Hier stark gekürzt:
“Nachdem Siemens innerhalb des Berliner Stadtgebiets keine Expansionsmöglichkeiten mehr sah, entschloss sich die Unternehmensleitung, die verstreuten Fabrikanlagen und die Verwaltungseinheiten außerhalb der Stadt zu konzentrieren. Nach eingehender Prüfung fiel die Wahl auf die Nonnenwiesen, eine entlegene Gegend nördlich der Spree zwischen Charlottenburg und Spandau.
Entscheidend für Siemens war zudem auch nicht der günstige Bodenpreis und die Möglichkeit, weitere Gebietsteile zu erwerben, sondern die Nähe zu den Berliner und Charlottenburger Werken sowie zu den kürzlich eröffneten Ringbahnstationen Westend und Jungfernheide, um Arbeitskräfte an den neuen Standort zu ziehen (Anm. des Autors: Letzteres war eine Fehlkalkulation gewesen).
Der damalige Planungschef und Vorstandsmitglied Carl Dihlmann (1857-1920) hatte vorher innerhalb des Konzerns stark – und als Einziger – um die Nonnendammwiesen geworben und dabei vor allem personalpolitische Argumente eingebracht. Eine gewichtiges Argument war, dass in der Gegend um den Nonnendamm bisher (und bis heute) keine Industrieansiedlungen zu erwarten sein würden, die unter Umständen Arbeitskräfte von Siemens abwerben könnten.”
Trotzdem dauerte es noch eine ganze Weile, bis er den Vorstand überzeugt hatte. Ohne Dihlmanns zähen Kampf um diesen Ort, hätte sich Siemens niemals hier niedergelassen.
Ohne Carl Dihlmann keine Siemensstadt!
Wer nach einem Namen für den Gründer der Siemensstadt sucht, hat ihn sicherlich auch mit Carl Dihlmann gefunden.
Von der Gründung zum Bau:
Den praktisch bis heute(!) gültigen “Masterplan” der Siemensstadt mit ihrem Verkehrswegenetz, den ersten Industriebauten, der Konzeption der ersten Wohnsiedlung und den ersten Sozialeinrichtungen schuf Karl Janisch, der von 1898 bis 1915 als Chefarchitekt für den neuen Siemens-Standort bau- und betriebstechnisch verantwortlich war.
Sein Nachfolger, Hans C. Hertlein, baute die Grundkonzeption und schuf bis in die 1950er Jahre das uns heute geläufige Industrie- und Stadtbild der Siemensstadt (siehe auch: Hans Hertlein, Geburtstag 2018).
Als privat errichtete “Industriestadt” am Rande Berlins stellt die Siemensstadt ein interessantes Phänomen nicht nur im Hinblick auf die Firmengeschichte von Siemens und deren sozialpolitische Aktivitäten und städtebauliche Entwicklungen dar, sondern auch beim Verhältnis von Stadt- und Privatunternehmen und dessen Auswirkungen auf den Stadtraum. Bis heute.
Der Anfang war es ein beschwerlicher Weg. Im besten Wortsinn. Für die Belegschaft.
Eingangs von mir als Fehlkalkulation beschrieben, stellte sich in der Tat heraus, dass die vermeintliche Nähe zum neuen Bahnhof Jungfernheide doch mit größten Schwierigkeiten verbunden war. Charlottenburg tat nichts für den Erhalt seines Teils des Nonnendamms. Gerade während der feuchten Jahreszeit war es eher ein matschiger Pfad, denn eine Straße. Die Beschwerden mehrten sich. In einem Brief vom Siemens Personalchef an den Charlottenburger Magistrat heißt es:
“(…) spottet der Zustand der Strasse jeder Beschreibung. Unsere täglich 7000 Angestellten, Arbeiter und Beamten erreichen ihre Arbeitsstelle erst nach einer sehr beschwerlichen Wanderung und in stark verschmutzter Garderobe, so daß die Arbeitsfreudigkeit hierunter zu leiden droht. Der Bürgersteig ist so schmal, daß wir von dem vorbeifahrenden Fuhrwerk rettungslos mit Schmutz beworfen werden. Der Gebrauch von Fahrrädern ohne Benutzung des Bürgersteiges ist ausgeschlossen, da die Löcher im Strassendamm eine zu große Gefahr bieten (…)”.
Geändert wurde seitens Charlottenburg natürlich nichts. Dies sprach sich herum.
Obwohl Siemens als Wegbereiter industrieller Sozialpolitik schon in ihren Berliner und Charlottenburger Werken für damalige Verhältnisse vorbildliche Sozialleistungen und bessere Bezahlung bot, war es nach der Inbetriebnahme des neuen Werkes schwierig, die dringend benötigten Facharbeiter und Führungskräfte in die abgeschiedene Gegend um den Nonnendamm zu bekommen. Nicht nur die langen, beschwerlichen Wege, auch die fehlenden Wohnmöglichkeiten wirkten abschreckend.
Bereits 1899, kurz nach Einrichtung des Kabelwerks, hatten bei Siemens daher Überlegungen begonnen, ob neben den künftigen Fabriken auch eine Wohnsiedlung errichtet werden sollte. Die schlechten Erfahrungen anderer Großfirmen im Berliner Raum mit firmeneigenem Werkswohnungsbau, der auf scharfe Kritik der sozialdemokratisch organisierten Arbeiter stieß, führten dazu, dass Siemens zwar den Wohnungsbau förderte, aber nicht selbst als Bauherr auftrat.
Zunächst sollten 63 Wohnhäuser zwischen Ohm- und Reisstrasse entstehen. Nach Einholung der Genehmigungen, kurz vor Baubeginn, blockierte Charlottenburg mit einer Verwaltungsklage diesen Schritt. Von Anbeginn stand fest, dass der Klage kein Erfolg beschieden sein konnte, sie nur der Zermürbungstaktik diente (siehe auch: Volkspark Jungfernheide, Jubiläum 2018 ).
Doch selbst wenn es die Wohnungen schon gegeben hätte, sie hätten nicht gereicht. Es war Kreativität gefragt.
So wurde ein Bootstransport für die Belegschaft eingerichtet. Hin und her. Einmal vom Bahnhof Jungfernheide aus und auch von Spandau.
Zudem litt der Materialtransport unter der miserablen Verkehrssituation. Das Kabelwerk war von Beginn an kompliziert auf dem sumpfigen Grund nah der Spree gebaut worden, immer den Gütertransport auf dem Wasser vor Augen. Doch vieles musste auch mit der Bahn transportiert werden. Trajektschiffe (Schiffe, die auf Deck mit Gleisen ausgestattet sind und Güterwaggons transportieren können) wurden im Pendelverkehr von einem extra zur Spree gelegten Gleisanschluss vom Bahnhof Westend aus eingesetzt.
Erst im Herbst 1904 konnte, nach Abweisung der Klage Charlottenburgs, endlich mit den Bauten der ersten Siedlung, später als “Altstadt” oder auch “Urstadt” bezeichnet, mit nunmehr gleich 218 Wohnungen, zwischen Ohmstr., Reisstr., Wernerwerkdamm und Nonnendammallee begonnen werden. Bauherr war die “Märkische Bodengesellschaft” (aus genannten Gründen komplett finanziert von Siemens), die auch die auch die Strassen (z.T. schon als Betonstrassen) anlegte.
Dann ging Alles recht schnell – wenn auch für die Bewohner nicht schnell genug:
April 1905: Erstbezug mit 242 Personen in 60 Wohnungen. Weiterbau zur Voltastr.
Mai 1905: Erste Schule mit einer Klasse in der Ohmstr. 7, andere Kinder gehen in die Gemeindeschule Spandau (die Organisation, die Fahrtkosten der anstrengenden Reise übernimmt Siemens).
Juni 1905: Juni Der Bahnhof Fürstenbrunn wird eröffnet – wieder gegen den Willen Charlottenburgs. Erbaut auf Kosten von Siemens. Ebenso auf Kosten von Siemens und ebenso gegen den Einspruch Charlottenburgs wurde der Rohrdammsteg zur Erschließung der neuen Ansiedlung mit dem Bahnhof über die Spree gebaut.
1908: Eingemeindung!
Wie soll man es bezeichnen? Zweiter Geburtstag? Schicksalstag?
Wäre die Entscheidung des Magistrats anders – also zugunsten Charlottenburgs erneuter Klage – ausgefallen, hätte Siemens hier absolut keine Zukunft gehabt. Sofortiger Baustop der Industrieanlagen. Die spätere Siemensstadt wäre gestorben ohne richtig gelebt zu haben.
Aber: Vier Jahre dauerten die scharfen Auseinandersetzungen zwischen Spandau und Charlottenburg an, da erreichte Siemens die Eingemeindung aller bisherigen, zwischen Charlottenburg und Spandau gelegenen, Gutsbezirke und Gemeinden nach Spandau. Siemens hatte bei den Anhörungen als betroffene Grundstückseigentümer stets betont das sie befürchteten, das ihnen “seitens Charlottenburgs Schwierigkeiten bei ihren Fabrikanlagen gemacht werden würden”.
Im selben Jahr konnte nun auch die langersehnte Eröffnung der von Siemens angelegten, zunächst eingleisigen, Tramverbindung von der Altstadt Spandau über Haselhorst zur Nonnendamm-Siedlung erfolgen.
Das Freizeitangebot in der entstehenden Siemensstadt war anfangs sehr schlecht, denn der neue Stadtteil, der sukzessive auf der grünen Wiese entstand, konnte an keine sozialen oder kulturellen Versorgungs- und Verwaltungseinrichtungen anknüpfen; sie waren überhaupt erst zu errichten. Auch dies wurde vor dem Ersten Weltkrieg weitgehend von Siemens getan.
So stellte Siemens das Bauland für eine Schule unentgeltlich zur Verfügung und übernahm außerdem einen großen Teil der Baukosten. In der Nachbarschaft zur Schule entstanden Sozialbauten, so 1912/13 ein Kinderheim für die Siemens-Mitarbeiter, Sportplätze und Erholungsstätten. Hans Hertlein entwarf in den 1920er Jahren das Mädchenheim (Siemensgarten, 1927/28), das später zum Clubhaus wurde, eine Turnhalle (1928/29) sowie eine Squash-Halle. Seit 1907 gab es Versorgungseinrichtungen und Geschäfte wie eine Apotheke, Arztpraxen, Gaststätten, einen Tabakwarenladen, einen Kaufmann, einen Bäcker etc.
1914 wurde “Siemensstadt” zur offiziellen Bezeichnung des heutigen Ortsteils von Spandau.
Erst 1919 gründete Siemens eine eigene gemeinnützige “Wohnungsgesellschaft Siemensstadt GmbH”. An dieser waren anfangs noch die Gemeinden Spandau und die “Märkische Heimstätten GmbH” beteiligt. Nachdem diese allerdings drei Jahre später ihre Anteile an Siemens abgegeben hatten, konnte Siemens seine wohnungsbaupolitischen Prinzipien durchsetzen.
Nach einem Entwurf von Hans Hertlein wurden die Siedlung am Rohrdamm sowie die Heimatsiedlung gebaut. Weitere Wohnsiedlungen entstanden in den 1920er Jahren in Zusammenarbeit von Siemens und der Gagfah.
Für die Entstehung des Stadtteils Siemensstadt ist die industrielle Zone von ausschlaggebender Bedeutung gewesen. Die Geschichte des Bezirks Siemensstadt ist nicht identisch mit der Firmengeschichte des Hauses Siemens aber sie ist doch in den ersten drei Jahrzehnten, bis etwa zum Jahre 1930, auf’s engste mit ihr verflochten.
Soviel in aller Kürze zum Beginn der Siemensstadt vor 121 Jahren.
Zum Schluss noch einmal zurück zum Anfang. Zum Anfang des Artikels. Und vielleicht zum Anfang vom Neustart der Siemensstadt.
Auf der Pressekonferenz vor ein paar Tagen sagte Joe Kaeser, Vorsitzender des Vorstands der Siemens AG folgendes mit dem ich hoffnungsvoll schließe:
“Das Gründungskonzept der Siemensstadt 1897 bestand darin, Arbeiten, Forschen und Wohnen zu vereinen und damit eine intakte Symbiose für eine erfolgreiche Zukunft zu schaffen. […] Genau darum geht es uns auch in der Siemensstadt 2.0”
Das Thema Siemensstadt (und anderes) wird intensiv auf meinen Führungen behandelt: Mann mit Hut Touren.
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